Henning Reetz
Artikulatorische und akustische Phonetik

©WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2003
ISBN 3-88476-337-7

EUR 23,50 (im Buchhandel oder direkt vom Verlag)


 Leseprobe  Inhaltsverzeichnis



 

Leseprobe

2.1.2 Entstehung und Ausbreitung von Schallwellen

Betrachtet man einen mit Luft gefüllten Raum, wie etwa ein Wohnzimmer, so kann man sich die Luftmoleküle in diesem Raum wie viele zufällig auf einem Papier verteilte Punkte vorstellen (s. Abb. 2a, b). Auf dem Papier sind diese Punkte natürlich in Ruhe, aber im Raum schwirren die Luftmoleküle herum, stoßen zusammen und prallen voneinander ab - viele millionenmal jede Sekunde. Als Gesamteffekt bilden sie eine mittlere Dichte, genau wie die Punkte auf dem Papier eine mittlere Dichte haben. Wenn der Luftdruck höher ist, dann sind mehr Moleküle im selben Raum vorhanden (s. Abb. 2b) als wenn ein niedrigerer Luftdruck herrscht (s. Abb. 2a).
 
Abb. 2: Luftmoleküle in einem Raum bei niedrigem Luftdruck (a) und hohem Luftdruck (b). Wird ein leerer Luftballon (c) aufgeblasen, so werden Luftmoleküle vom Ballon in die Nachbarschaft gedrückt und erhöhen den Luftdruck in der Nähe des Ballons (d). Etwas später (e) wandern Luftmoleküle weiter durch den Raum und erhöhen den Luftdruck dort. Wird der Luftballon wieder abgelassen (f), dann strömen die Luftmoleküle in den jetzt leeren Bereich zurück, der zuvor vom Luftballon eingenommen wurde. (g) zeigt die Situation nach dreimaligem schnellen Aufblasen und Ablassen des Luftballons. (Die Luftmoleküle im Ballon werden hier nicht betrachtet.)

Denkt man sich jetzt in der Mitte dieses Raumes einen Luftballon (s. Abb. 2c) und stellt sich vor, dass der Luftballon aufgeblasen wird, dann nimmt er einen gewissen Platz ein und verdrängt Luftmoleküle. Da die Luft elastisch ist, bewegen sich die verdrängten Luftmoleküle zwischen benachbarte Moleküle und erhöhen den Luftdruck dort (s. Abb. 2d). Da sich jetzt an einer Stelle im Raum Luftmoleküle zusammendrängen, an anderer Stelle aber noch die gleiche Dichte herrscht wie zuvor, drängen Moleküle aus dem Raum mit der höheren Dichte in den Raum mit der niedrigeren und erhöhen auch dort den Luftdruck (s. Abb. 2e). Nach einer Weile erhöht sich also auch im weiter entfernten Raum die Dichte, ohne dass der Luftballon selber diesen Raum eingenommen hat.

Lässt man jetzt die Luft aus dem Luftballon wieder heraus (s. Abb. 2f), dann wird ein Raum frei, in dem keine Luftmoleküle mehr sind (denn da war ja der Luftballon). Natürlich eilen jetzt die Moleküle aus dem ‘dichteren’ Luftraum dorthin. Und genau wie die Luftverdichtung pflanzt sich diese Luftverdünnung durch den gesamten Raum fort.

Stellt man sich das Aufblasen und Entleeren des Luftballons immer wiederkehrend vor, so werden die Luftmoleküle ständig hin- und hereilen; und zwar mit der Häufigkeit, mit der der Luftballon aufgeblasen und entleert wird (s. Abb. 2g). Dieses Verdichten und Verdünnen der Luft geschieht aber nicht nur dort, wo der Luftballon ist, sondern auch an weiter entfernt liegenden Orten, wie eben beschrieben wurde. Wenn der Luftballon weiter aufgeblasen wird, werden mehr Moleküle bewegt und sie müssen sich dichter zusammendrängen ? aber nicht notwendigerweise schneller. Wird der Ballon dagegen schneller aufgeblasen und abgelassen, dann bewegen sich die Moleküle schneller hin und her, werden aber nicht notwendigerweise stärker verdichtet.
 
Abb. 3: Personen beim Schunkeln. Neigt sich die Person am linken Rand nach rechts, wird sich etwas später die neben ihr stehende Person ebenfalls nach rechts neigen usw. Nach einer Weile neigt sich auch die Person am rechten Rand nach rechts. D. h. das ‘nach-rechts-neigen’ zieht sich mit einer gewissen Geschwindigkeit über die ganze Strecke hin, obwohl sich jede einzelne Person nicht vom Fleck bewegt. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des ‘nach-rechts-neigens’ ist unabhängig davon, mit welcher Schnelle sich eine einzelne Person hin- und herneigt. In dieser Momentaufnahme sind die Personen im Teil ‘A’ dichter zusammen als im Teil ‘B’.

Man kann sich das Hin- und Herbewegen der Luftmoleküle ähnlich wie das Schunkeln einer Reihe von Menschen vorstellen (s. Abb. 3). Neigt sich die erste Person nach rechts, wird sich etwas später die Person neben ihr auch nach rechts neigen, dann die übernächste usw. Nach einer Weile neigt sich die erste Person wieder nach links, dann die zweite, dritte usw. Jede Person bleibt dabei auf ihrem Platz stehen und neigt sich nur etwas nach links oder rechts. Die Bewegung ‘nach rechts-neigen’ und ‘nach-links-neigen’ zieht sich dagegen über die gesamte Menschenkette hin.

Das Schunkeln hat noch weitere Eigenschaften mit dem Bewegen der Luftmoleküle gemeinsam: so kann jede Person nur ein kleines Stück hin- und herschunkeln, genauso wie die Luftmoleküle sich nur etwas hin- und herbewegen können (wenn der Luftballon nur wenig aufgeblasen und abgelassen wird). Oder die Personen können sich auch sehr weit hin- und herbeugen, genauso wie die Luftmoleküle sich sehr weit hin- und herbewegen können (wenn der Luftballon sehr groß aufgeblasen und wieder abgelassen wird). Weiterhin können die Personen schnell oder langsam schunkeln, und das können sie unabhängig davon tun, wie weit sie sich hin- und herbeugen. Genauso können die Luftmoleküle schnell oder langsam hin- und herschwingen, unabhängig davon, wie weit sie hin- und herschwingen.1

Jetzt sind schon zwei Eigenarten der Schallwellen vorgestellt worden: die Luftdruckschwankungen können verschieden schnell auftreten und verschieden stark sein. Zusätzlich wurde gezeigt, dass sich die Luftdruckschwankungen viel weiter ausbreiten können, als sich ein einzelnes Molekül bewegt.

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1 Genaugenommen gibt es einen Zusammenhang zwischen der Weite des Hin- und Herneigens und der Schnelle, mit der sich die Personen neigen: um sich nämlich in einer gegebenen Zeit weiter zu neigen, muss eine Person sich auch schneller neigen, da in gleicher Zeit eine größere Strecke zurückgelegt werden muss. Die Schnelle des Neigens ist also abhängig von der Weite des Neigens. Dieser Zusammenhang ist bei der Berechnung der ‘Größe’ eines Sprachsignals wichtig (s. Kap. 2.3.2.1).


 

Inhaltsverzeichnis

1 Für wen ist dieses Buch? 1
  1.1 Gegenstand der Phonetik 1
  1.2 Aufbau des Buchs 2
  1.3 Terminologie 2

2 Akustische Phonetik 3
  2.1 Schallwellen 3
    2.1.1 Schallwellen sind Luftdruckschwankungen 3
    2.1.2 Entstehung und Ausbreitung von Schallwellen 4
    2.1.3 Schallgeschwindigkeit 7
    2.1.4 Die relative Lage zu einer Schallwelle 8
    2.1.5 Longitudinal- und Transversalwellen 9

  2.2 Messen von Schallwellen 10
    2.2.1 Mikrofon 10
    2.2.2 Oszillogramm 12

  2.3 Akustische Kenngrößen und ihre Einheiten 14
    2.3.1 Frequenz 14
       2.3.1.1 Periodendauer 14
       2.3.1.2 Periodendauer und Papiergeschwindigkeit 15
       2.3.1.3 Periodendauer und Periodenfrequenz 16
       2.3.1.4 Periodenfrequenz und Wellenlänge 17
    2.3.2 Amplitude 18
       2.3.2.1 RMS-Amplitude 19
       2.3.2.2 RMS-Amplitude und Lautstärke 22
       2.3.2.3 Rechnen mit dB-Werten 26
       2.3.2.4 Darstellung von Amplitudenverläufen 27
    2.3.3 Phase 30
    2.3.4 Resonanz, Dämpfung und Filterung 33
       2.3.4.1 Resonanz 33
       2.3.4.2 Dämpfung 38
       2.3.4.3 Filter 39

  2.4 Digitalisierung akustischer Signale 40
    2.4.1 Zeit- und Amplitudendigitalisierung 41
    2.4.2 Abtastrate 42
    2.4.3 Messauflösung 45

  2.5 Typen akustischer Signale 48

  2.6 Analyse akustischer Signale 52
    2.6.1 Fourier-Transformation 52
      2.6.1.1 Summieren von Signalen: Fourier-Synthese 52
      2.6.1.2 Zerlegen von Signalen: Fourier-Analyse 56
      2.6.1.3 Harmonische Frequenzen 59
      2.6.1.4 Diskrete Fourier-Transformation und ‘Fast Fourier Transformation’ 62
      2.6.1.5 Fourier-Transformation für nicht-periodische Signale 63
    2.6.2 Was man in einem Spektrum ablesen kann 65
    2.6.3 Filter in spektraler Darstellung 65
    2.6.4 ‘Windowing’ in der Spektralanalyse 68
      2.6.4.1 Zusammenhang zwischen Fensterbreite und spektraler Auflösung 74
      2.6.4.2 Zusammenhang zwischen spektraler und zeitlicher Auflösung 76
    2.6.5 Andere spektrale Darstellungen: waterfall und Spektrogramm 77
    2.6.6 Gleichzeitige Zeit- und Frequenzauflösung 81
      2.6.6.1 Wavelets 81
      2.6.6.2 Gabor-Spektren 82
    2.6.7 Auditive Spektren 83
    2.6.8 Geglättete Spektren 84
      2.6.8.1 Geglättetes Fourier-Spektrum 84
      2.6.8.2 Cepstrum 86
      2.6.8.3 LPC-Spektrum 88

  2.7 Tonhöhenmessungen 91

  2.8 Skalen 94
    2.8.1 Lineare Skala 94
    2.8.2 Logarithmische Skala 95
    2.8.3 mel-Skala 96
    2.8.4 Bark-Skala 97
    2.8.5 Equivalent Rectangular Bandwidth (ERB) Skala 99

3 Aufbau und Funktion des Sprech- und Hörapparats 101
  3.1 Sub-glottales System: Lungen, Bronchien und Luftröhre 103
    3.1.1 Anatomie des sub-glottalen Systems 103
    3.1.2 Bewegungen der Lunge 105
      3.1.2.1 Einatmen (Aspiration) 106
      3.1.2.2 Ausatmen (Expiration) 107
    3.1.3 Lungenvolumina und deren zeitliche Kontrolle 107
    3.1.4 Lautstärke und Lungenluftdruck 109

  3.2 Aufbau und Vorgänge im Kehlkopf: Phonation 110
    3.2.1 Anatomie des Kehlkopfs 110
    3.2.2 Schwingen der Stimmlippen 114
      3.2.2.1 Bernoulli-Effekt und aero-dynamische Theorie 115
      3.2.2.2 Myo-elastische Theorie der Stimmlippenschwingung 118
      3.2.2.3 Zwei-Massen-Theorie der Stimmlippenschwingung 121
      3.2.2.4 Muco-viscöse-, ‘cover body’- und Abrisstheorie 122
    3.2.3 Larynxsignal 123
      3.2.3.1 Lautstärke und Larynxsignal 125
      3.2.3.2 Register 127

  3.3 Supra-laryngales System: Vokaltrakt 128
    3.3.1 Aufbau des Vokaltrakts 129
    3.3.2 Akustische Eigenschaften des Vokaltrakts 131
      3.3.2.1 Schallabstrahlung an Lippen und Nase 131
      3.3.2.2 Resonanzen des Vokaltrakts 132
      3.3.2.3 Formanten 135
      3.3.2.4 Formantlagen 138
      3.3.2.5 Formantübergänge 140

  3.4 Interaktionen zwischen Kehlkopf und Vokaltrakt 142
    3.4.1 Intrinsic F0 142
    3.4.2 Bildung eines Plosivs 143

  3.5 Gehör 149
    3.5.1 Äußeres Ohr 151
    3.5.2 Mittelohr 152
      3.5.2.1 Druckerhöhung im Mittelohr 153
      3.5.2.2 Regelung im Mittelohr 154
      3.5.2.3 Druckausgleich in der Paukenhöhle 156
    3.5.3 Innenohr 157
      3.5.3.1 Druckwellen in der Cochlea 159
      3.5.3.2 Basilarmembran als schwingende Membran 160
      3.5.3.3 Resonanztheorie 161
      3.5.3.4 Widersprüche zu der Resonanztheorie 162
      3.5.3.5 Wanderwellentheorie 163
    3.5.4 Aufbau der Basilarmembran 165
      3.5.4.1 Äußere Haarzellen 166
      3.5.4.2 Otoakustische Emissionen 167
      3.5.4.3 Innere Haarzellen 168
      3.5.4.4 Die Basilarmembran als Fourier-Transformator? 169

Nachwort 171
Anhang A.1: Masse, Kraft und Druck   173
Anhang A.2: Energie, Intensität und Leistung   175
Anhang B.1: Physikalische Terminologie   179
Anhang B.2: Mathematische Schreibweisen   181
Anhang C.1: Formantwerte   183
Anhang C.2: Grundfrequenzwerte   184

Literaturverzeichnis  185
Index englischer Begriffe  189
Index deutscher Begriffe  193

Text: Henning Reetz
Graphik: Regine Eckardt